Der Erkenntnisgewinn in der Wissenschaft ist ein langsamer und zäher Prozess, der durch eine Vielzahl an Irrtümern, Neuanfängen und Überprüfungen geprägt ist. Falsche Vorstellungen, wonach die Forschung von der getroffenen Annahme zielstrebig auf eine neue, für alle Zeiten gültige Erkenntnis zusteuert, führen oft zu Missverständnissen zwischen Gesellschaft, Politik und Wissenschaft. Aber auch für Nachwuchswissenschaftler:innen kann der Umgang mit Misserfolgen zur Herausforderung werden, insbesondere, wenn das Thema tabuisiert wird oder die Erwartungshaltung besonders hoch ist.
Daher widmete sich die Spring School 2024 der One Health Platform, die am 13. Mai in Hannover stattfand, diesem komplexen Thema. Die Relevanz des Themas für Promovierende und PostDocs zeigte sich dadurch, dass die Veranstaltung schnell ausgebucht war.
Der steinige Weg eines Forschungsprojektes
Den Einstieg in das Thema bereite Prof. Stephanie Becker (Tierärztliche Hochschule Hannover), die anhand eines ihrer Forschungsprojekte exemplarisch nachzeichnete, wie ein Forschungsprojekt verlaufen kann und wie steinig der Weg zum Erfolg sein kann. In dem von ihr vorgestellten Projekt dauerte es bis zum Beweis der Hypothese geschlagenen 13 Jahre, da sie und ihr Team sich unter anderem ursprünglich für die falsche Methode zum Nachweis entschieden. Zudem gestalteten sich die Experimente teils komplizierter als gedacht. Dies sei keine Seltenheit, wie Prof. Becker betonte, denn in der Forschung begibt man sich auf unbekanntes Terrain und kennt viele Antworten vorher nicht. Es sei daher realitätsfremd zu glauben, dass bei einem Forschungsprojekt alles so funktionieren würde, wie im Antrag geschrieben. Aber selbst, wenn die ursprüngliche Forschungshypothese sich im Laufe eines Projektes als falsch erweisen sollte, könnten trotzdem wertvolle Ergebnisse gewonnen werden. Zudem ließen sich Negativresultate auch publizieren, wenn auch meist mit einem geringeren Impact Factor. Für eine kumulative Dissertation würden diese Publikationen aber genauso zählen, wie andere. Am Ende seien Negativergebnisse ein wichtiger Bestandteil des Forschungsalltag, in die ebenfalls Geld und Zeit fließen und die daher auch publiziert werden sollten. Nicht zuletzt um die Welt darüber in Kenntnis zu setzten: „So funktioniert es nicht.“
Fehler in der Dateninterpretation
Die erfolgreiche Durchführung eines Experiments ist eine Hürde einer wissenschaftlichen Arbeit. Die sinnvolle Interpretation der Ergebnisse und möglicherweise sogar der Transfer in die Praxis zwei weitere, auf die Prof. Dr. Ulrich Dirnagl (BIH Quest Center for Responsible Research) in seinem Beitrag näher einging. Als echte Fehler bezeichnete er in seinem Vortrag Experimente die schief gehen. Fehler im Labor seien häufig, aber leider fehle oft ein professionaler Umgang damit, wie es in anderen Branchen Gang und Gebe sei. Fehler, die unentdeckt blieben, führten unweigerlich zur Produktion von Ergebnissen mit geringer Validität und trügen zur Reproduzierbarkeitskriese bei. Ein weiteres Problem seien jedoch Ungenauigkeiten bei der statistischen Auswertung von Experimenten. Hier würden Phänomene wie das sogenannte p-hacking, bei dem man auf verschiedene Weisen versucht einen signifikanter p-Wert zu erlangen, oder eine selektive Auswertung (cherry picking), geringe Fallzahlen, sowie „Storytelling“ und „Harking“ dazu führen, dass die Aussagekraft von Ergebnissen verfälscht würde. Ein riesiges Problem für die Interpretation und Translation von Experimenten und Studien sei die teils geringe statistische Kompetenz in der biomedizinischen Forschung. Ein weiteres Problem sei die seltene Publizierung von Negativ- und Nullresultaten in der Forschung. Um diese Probleme langfristig lösen zu können, sei ein Kulturwandel in der Wissenschaft notwendig, Nullhypothesen und Negativresultate sollten viel häufiger publiziert werden und die statistische Kompetenz bei Wissenschaftler:innen gestärkt werden. Zudem könne es hilfreich sein, Studienprotokolle vorab zu registrieren, wie es bereist bei klinischen Studien Vorschrift ist. Entsprechend endete Prof. Dirnagl seinen Vortrag mit einem Zitat von Jonas Salk: “There is no such thing as a failed experiment, because learning what doesn’t work is a necessary step to learning what does.”
Der Weg zum produktiven Scheitern
Einen Überblick zu den Formen, Funktionen und des Kulturwandel des Scheiterns aus philosophischer Sicht gab Dr. Michael Jungert (FAU Kompetenzzentrum für interdisziplinäre
Wissenschaftsreflexion). Er wies darauf hin, dass der Umgang mit Scheitern außerhalb der Wissenschaft teils sehr viel offener erfolgt und in der Wirtschaft teils sogar extra Freiräume fürs Scheitern eingeräumt werden. Dies tue man, weil man sich bewusst sei, dass nicht immer alles auf Anhieb klappen könne und dass sich Fortschritt nicht ohne den ein oder anderen Fehlschlag erreichen ließe. Blickt man auf die historische Entwicklung von Scheitern in der Wissenschaft stelle man fest, dass sich hier ein starker Wandel vollzogen hat. Während im 17. Jahrhundert bis weit ins 19. Jahrhundert Wissenschaft unter der Maxime der Vermeidung von Irrtümern und Scheitern im Vordergrund stand, etablierte sich ab dem 20. Jahrhundert verstärkt die Sichtweise, dass Scheitern als ein essentieller Bestandteil der Wissenschaft anzusehen sei. Nach der Definition von Karl Popper besteht das Fundament der Wissenschaft demnach im Testen von Theorien und Hypothesen mit dem Ziel, diese zu widerlegen bzw. zu falsifizieren. Somit ist das Scheitern Teil der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung. Dies spiegelt sich im Forschungsalltag wieder, in dem Scheitern an der Tagesordnung ist, während Durchbrüche vergleichsweise selten vorkommen. Ursachen des Scheiterns können Fehler oder Irrtümer sein. Im Allgemeinen könne das Scheitern in verschiedenen Formen (Verwerfen – Verbessern – Variieren – Verteidigen) und aus verschiedenen Gründen auftreten. Dass es auch ein „erfolgreiches Scheitern“ gebe, erörterte Dr. Jungert anhand der Apollo 13 Mission. Die Mission habe durch ihr Scheitern wichtige Lernprozesse und Veränderungen
angestoßen und zur Etablierung einer Kultur des Scheiterns in der NASA beigetragen, von der zukünftige Missionen profitieren konnten. Auch in der Wissenschaft könnte der richtige Umgang mit Scheitern helfen Missverständnisse über die Funktionsweise der Wissenschaft in der Öffentlichkeit zu vermeiden und Scheitern produktiver zu machen. Hierfür sei eine Veränderung aus der Wissenschaft heraus notwendig. Wichtige Elemente einer „Infrastruktur des Scheiterns“ seien beispielsweise, ein offener Umgang mit Scheitern nach innen und nach außen, eine Dokumentation gescheiterter Arbeiten durch Publikation von Negativ- und Nullergebnissen, und eine risikoreiche Wissenschaftsförderung. Diese veränderte Kultur können auch den Druck, gerade von Nachwuchswissenschaftler:innen nehmen, welcher immer wieder auch zu Fehlverhalten führen würde.
Gerechtigkeit und Inklusion für One Health
Ein transparenter Umgang mit Scheitern innerhalb der Wissenschaft ist insbesondere für die starke Vernetzung zwischen Disziplinen und Sektoren im One Health Kontext relevant. Wie sich Gerechtigkeit und Inklusion für One Health erreichen lassen erörterte Dr. Lara Urban (Helmholtz AI Institute) in ihrem Vortrag. Anhand zahlreicher Projekte mit Partner:innen im Ausland zeigte sie auf wie sich Transparenz und der Austausch von Forschungsergebnissen in vernetzten Projekten realisieren lassen. Dies spiele insbesondere vor dem Hintergrund einer ungleichen globalen Verteilung von Ressourcen und Chancen eine Rolle.
Der richtige Umgang mit Misserfolgen
Auch Prof. Martin Pfeffer (Universität Leipzig) hob die Bedeutung von Transparenz in vernetzten Forschungsvorhaben hervor. Diese lasse sich durch einen offenen und ehrlichen Umgang mit Kolleg:innen und Forschungspartner:innen erreichen. Aber auch eine formale Absicherung, beispielsweise durch einen Kooperationsvertrag, sei ein wichtiger Baustein um Transparenz herzustellen. Im Bezug auf Misserfolge wies er darauf hin, dass die Definition eines Misserfolges stark von der eigenen oder äußeren Erwartungshaltung abhängen würde. Zudem schloss er sich den Aussagen seiner Vorredner:innen an, wonach Misserfolge ein alltäglichen Phänomen der Forschung seien. Zudem seien sie auch oft durch Dritte generiert. Es gebe eine Vielzahl von Problemlösungsstrategien, wie er auch anhand eigener Erfahrungen aus Forschungsprojekten verdeutlichte. Für einen guten Umgang mit Misserfolgen seien seiner Erfahrung nach zwei Dinge notwendig: eine gute Planung, die alle möglichen Eventualitäten bedenkt und ggf. auch einen Plan B enthält und eine Enttabuisierung des Scheiterns, die es einem ermöglicht bei Bedarf auch Hilfe einzufordern.
Forschungsförderung mit Mut zum Risiko
In einer abschließenden Diskussionsrunde zum Thema „Forschungsförderung - Risiko vs. Fehlervermeidung – wie erreichen wir wissenschaftlichen Fortschritt?“ fand aufbauend auf den vorherigen Vorträgen ein Austausch darüber statt, wie Forschungsförderung funktionieren sollte um Innovation, Exzellenz, Transparenz und Qualität zu fördern. Wie lässt sich der Spagat zwischen risikoreichen Pionierarbeiten und konservativen Fehlervermeidungsstrategien bei Forschungsvorhaben meistern? Wie viel Risikobereitschaft kann/sollte man bei einem Forschungsvorhaben haben? Welche Bewertungsmaßstäbe und Förderformate gibt es/ braucht es um Innovation, Exzellenz, Transparenz und Qualität zu fördern? Wie ist Exzellenz zu bewerten? Wie kann man mit einer guten Publikationskultur Forschung effizienter und fortschrittlicher gestalten?
Diese Fragen diskutierten die Podiumsteilnehmer:innen Prof. Dr. Stephan Ludwig (Universität Münster), Dr. Nora Kottmann (Volkswagenstiftung), Dr. Laura de la Cruz (Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V.) und Leif Rauhöft (Bernhard-Nocht Institut für Tropenmedizin) gemeinsam mit den Teilnehmer:innen der Veranstaltung. Dabei wurde insbesondere die Lage von Nachwuchswissenschaftler:innen thematisiert.
Misserfolge enttabuisieren
Die Spring School verdeutlichte, dass Misserfolge und Scheitern ein integraler Teil von Forschung sind. Um langfristig die Qualität und das Innovationspotential von Forschung zu erhalten sind ein transparenter Umgang mit Misserfolgen, eine risikobereite Forschungsförderung und eine Enttabuisierung des Scheiterns wichtige Schritte. Insbesondere für den One Health Bereich, der von einem hohen Vernetzungsgrad und Kooperationen geprägt ist, ist ein transparenter Umgang mit Ergebnissen und Misserfolgen elementar. Dies kann auch dazu beitragen die Glaubwürdigkeit von Wissenschaft in der Gesellschaft zu erhöhen und den Druck auf junge Wissenschaftler:innen zu reduzieren.